Zu Leben und Werk des Komponisten
Die Schweizer Jahre
1927
Am 25. April in Aarau geboren, Kindheit und Jugend in kunstfreundlichem Elternhaus
1934
Erster Klavierunterricht
1939-43
Bezirksschule (Progymnasium) Aarau. ”Mit 14 Jahren begriff ich, dass ich der Musik
gehöre”.
1943-47
Kantonsschule (Obergymnasium) Aarau. Klavierunterricht und Harmonielehre bei Otto Kuhn. Bildung
lebenslanger Freundschaften. ”Entdeckung” von Strawinsky, Hindemith, Bartok. Erste
Kompositionen.
1947-50
Nach Matura Studien am Konservatorium Zürich: Komposition und Kontrapunkt (Willy Burkhard),
Klavier (Walter Frey), Dirigieren (Paul Müller), Schulgesang (Ernst Hörler), Analyse
(Rudolf Wittelsbach). Stark bestimmt durch Burkhards pädagogisches Geschick und Freys
Vermittlung moderner Musik. ”Fünf Lieder im alten Stil“ (1949) als Opus 1
bezeichnet. 1950 Diplom in allen Studienfächern.
1950-56
ätigkeit in Aarau: Leiter eines Kirchenchors, Lehrer für Chorgesang am Gymnasium,
Privatunterricht in Klavier. Verfolgt aufmerksam die Entwicklung der neuen Musik. Früher
Erfolg mit Kompositionen: Lieder, Chorwerke, Instrumentalensembles und Soloinstrumente, mehrere
Auftragskompositionen für Radiohörfolgen. Diese und andere frühe Aufnahmen von Radio
DRS später gelöscht.
1955
Heirat mit der brasilianischen Sängerin Sonja Born. Sich in den Schweizer
Verhältnissen zusehends beengt fühlend, nimmt er 1956 Urlaub für einen
Brasilienaufenthalt. Bleibt dort.
Die Jahre in Brasilien
1956
In Salvador da Bahia Anstellung an den ”Seminarios livres da Música”
(später Musikhochschule als Teil der Universidade Federal da Bahia) durch deren Leiter H.J.
Koellreuter, damals eine Zentralfigur im Musikleben Brasiliens, als Lehrer für Musiktheorie
und Chorleitung. Der Lehrauftrag wird bald auf Klavier erweitert.
1958-67
Führt den Madrigalchor des Musikhochschule zu internationalem Ansehen. Konzertreisen,
Aufnahmen, Kompositionen für den Chor.
1962
Zweite Ehe mit Adriana Bispo (genannt ”Lys”), dem Solosopran des Madrigalchors, drei
Kinder.
1963
In Nachfolge von Koellreutter auch Lehrer für Komposition und Kontrapunkt (spätere
Lehrtätigkeit gilt auch Improvisation, Orchestrierung, Dirigieren, Musikerziehung).
1963-65 (ebenso 1967-69 und 1976-80)
Direktor der Musikhochschule Bahia.
1966
Gründung des ”Grupo de Compositores da Bahia“. Widmer als intellektueller und
spiritueller Mentor einer Generation junger brasilianischer Komponisten. ”Gruppe, aber keine
Schule“.
1967
Annahme der brasilianischen Staatsbürgerschaft, unter Wahrung des Schweizer
Bürgerrechts.
1969-73
Künstlerischer Leiter des Festivals für Neue Musik Bahia, dann 1974-82 des
”Festival de Arte Bahia”. Bringt ebenso junge brasilianische Komponisten wie
Zeitgenossen aus Europa und Nordamerika zur Aufführung.
1969-84
In dichter Folge organisatorische und repräsentative Funktionen im Hochschulbetrieb ebenso
wie in der staatlichen Kulturförderung. Steigende Anerkennung und bedeutende Stellung im
bahianischen und brasilianischen Kulturleben. Langsame Lösung von offiziellen Aufgaben, um
sich der Komposition zu widmen: mehr als ein Drittel seines Werks, darunter die grossen
sinfonischen und vokalen Werke, entsteht in den letzten acht Lebensjahren.
1987
Tritt auch von allen Lehrverpflichtungen zurück. Neben Kompositionen auch
musikwissenschaftliche Untersuchungen. Arbeit an der grossen ”Ópera da
Libertade“ (op. 172).
1988
Mitglied der Academia Brasileira da Música.
1989
Im Herbst letzte Reise in die Schweiz. Erhält den Auftrag, die Festspielmusik zur
700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft zu schreiben. Von schwerer Krankheit gezeichnet.
1990
Am 3. Januar Tod Ernst Widmers in Aarau.
Einige Konstanten und Schwerpunkte
In Salvador sah sich Widmer völlig neuen Arten von Musik ausgesetzt, vorab jener des
brasilianischen Nordostens, der afrobahianischen Musikkultur. Für diese Einflüsse hielt
er sich nicht nur offen; es kam zu einer eigentlichen, bewussten und nachhaltigen Aneignung.
Zwischen 1960 und 1981 wurden nicht weniger als zwei Dutzend Werke Widmers preisgekrönt,
sowohl an nationalen wie an internationalen Kompositionswettbewerben.
Religiöse Thematik und eigentliche Kirchenmusik nehmen im kompositorischen Schaffen einen
breiten Raum ein (an die 40 Werke) - eine Fundgrube für Organisten und Chorleiter.
In Widmers Natur lag, dass er unablässig experimentierte: mit Klangfarben, Rhythmen,
Notationsweisen, neuen Instrumenten, Umsetzungen von Folklore, Einbezug des Publikums,
musikalischen For-men ...
Er legte grossen Wert darauf, über die neuesten Entwicklungen der zeitgenössischen
Musik auf dem laufenden zu sein. Regelmässig liess er sich Tonbänder der Festivals
für neue Musik aus Europa und Nordamerika schicken, zur eigenen Orientierung ebenso wie zu der
seiner Studenten.
Durch Widmers ganzes Schaffen zieht sich eine starke didaktische Komponente. Dirigierte er einen
Chor, so schrieb er eben Werke für diesen Chor. Wo es an Lehrmitteln für die Studenten
fehlte, schrieb er eben welche (die grossen Klavierschulen). Vom tiefen Interesse in dieser
Hinsicht zeugen mehrere musikpädagogische Schriften, bis hin zu einem Aufsatz über die
Ausbildung zeitgenössischer Komponisten.
In Widmers Werk spiegeln sich deutlich seine weitgespannten literarischen Interessen. Schon in
den Schweizer Jahren vertonte er Texte aus verschiedenen Literaturen. In Brasilien zog er gerne
Arbeiten moderner Dichter des Landes heran, mit Vorliebe von Carlos Drummond de Andrade und Jorge
de Lima. Besonderes Profil erhielt sein Schaffen in den Siebzigerjahren durch die Zusammenarbeit
mit Silja Walter, und noch im Spital, 1989, wählte er Gedichte von Erika Burkart zur Vertonung
aus.
Kontakte zur Schweiz (zu Verwandten, Freunden, Musikern) hielt Widmer stets aufrecht, alle paar
Jahre auf Reisen nach Europa, dazwischen brieflich.
”Ich renne nicht der Originalität hinterher, aber wenn ich etwas aussage, kommt das
immer als etwas Neues daher. Meine Musik ist neue Musik, aber nicht geschraubt, nicht orthodox,
nicht schulmässig. Orthodox muss die Avantgarde sein. Ich bin kein Avantgardist, auch wenn
mich einige dafür halten; ich bin kein Primitivist, auch wenn andere mich für primitiv
halten; und ich bin kein Reaktionär, ich mache nicht konventionelle Musik. Nun ja, es ist
leichter zu sagen, was ich nicht bin. Meine Musik kann man sogar als nationalbetont ansehen, eine
Musik innerhalb dessen, was man „Brasilität“ nennt - ohne den politischen
Beigeschmack.”
(aus einem Interview zu Widmers 60. Geburtstag, Salvador, Mai 1987)
Die Ernst Widmer-Gesellschaft
Noch zu Lebzeiten des Komponisten bildete sich, zur Promotion seines Werks, 1988 die Ernst
Widmer-Gesellschaft in der Rechtsform eines Vereins. Diesem traten, gemäss dem
ausdrücklichen Wunsch Widmers, seine Erben die Urheberrechte an den Kompositionen ab. Ebenso
kam die Gesellschaft durch Vereinbarung mit den Erben in den Besitz von Widmers musikalischem
Nachlass: Manuskripte, Skizzen, Briefe, theoretische Schriften, Tonbänder, Platten.
Neben der archivalischen Aufarbeitung des Nachlasses - einen Teil davon bildet das vorliegende
Werkverzeichnis - fördert die Gesellschaft die Aufführung, Aufnahme und Drucklegung von
Widmers Kompositionen und verwaltet die Urheberrechte.
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